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Introvision: Gelassen und handlungsfähig durch Auflösung des Muss-Darf-nicht-Gefühls

von Ingo Zacharias am 17. April 2011

Immer wieder erleben wir, dass wir etwas Bestimmtes tun oder lassen wollen, aber es geht einfach nicht. Immer wieder sind wir in ähnlichen Situationen verärgert oder haben Angst, obwohl wir uns vorgenommen haben, diesmal gelassen und souverän zu reagieren.

Immer wieder schieben wir Dinge wider besseren Wissens vor uns her, tun uns mit anstehenden Entscheidungen schwer oder verlieren uns in schier endlosen Gedankenketten.

In all diesen Situationen haben wir einen inneren Konflikt: das, was wir möchten, steht im Widerspruch zu dem, was wir tatsächlich tun bzw. erreichen. Irgendetwas in uns sorgt für eine mentale Blockade.

Was kennzeichnet diese Blockade und wie kann sie aufgelöst werden?

Klassische Veränderungs-Arbeit.

In heute weit verbreiteten Ansätzen zur Veränderung lernt der Klient, die „hinderlichen“ Persönlichkeitsanteile und ihre guten Gründe für ihr Verhalten näher kennen zu lernen, um dann aus einer wertschätzenden Haltung allen inneren Anteilen gegenüber zu einem neuen Verhalten zu finden.

Oder er entdeckt zunächst die Ursachen für sein standhaftes, aber jetzt unpassendes Verhalten in der Kindheit. Dann versucht er, wie in der Verhaltenstherapie, das gewünschte Verhalten einzuüben und dabei vorhandene Ängste zu überwinden (und damit neue Bahnen im Gehirn zu legen).

Introvision: Dem „Schlimmgefühl“ achtsam ins Gesicht schauen.

Der Ansatz der Introvision geht einen anderen Weg. Ich nenne ihn den direkten Weg. Kurz gesagt besteht er darin, einem (sehr) unangenehmem Gefühl achtsam ins Gesicht zu schauen und dadurch das „Schlimmgefühl“ von einem fordernden Gedanken zu entkoppeln.

Dahinter stehen zwei Überlegungen bzw. Erkenntnisse:

1. Menschen haben oft Vorstellungen über sich und die Welt entwickelt, die lauten: „Ich muss…“ und „Ich darf nicht…“. Also z. B.:. „Ich darf mich nicht blamieren.“ oder „Ich muss erfolgreich sein.“ Diese Forderungen an sich selbst kann man „Zwangsgedanken“ nennen, denn sie zwingen uns zu einem bestimmten Verhalten.

Auch hinter Formulierungen wie „Ich sollte…“ oder „Ich will…“ können sich Zwangsgedanken verbergen. Deshalb kann man zu Recht sagen, dass wir unter dem „Muss-Darf-nicht-Syndrom“ leiden.

2. Die Zwangsgedanken müssen (per Definition) auf jeden Fall eingehalten werden. Deshalb brauchen wir dazu eine starke Erinnerung. Die erhalten wir durch starke Gefühle und intensive körperliche Erregung. Sie sagen uns: „Achtung! Vorsicht!“

Dieses unangenehme Gefühl wird dann mit der Zeit zu unserem eigentlichen Problem. Denn als Menschen wollen wir verständlicherweise „Unangenehmes“ so weit wie möglich vermeiden. Gelingt es nun, dieses Gefühl zu schwächen oder aufzulösen, dann hat auch der dazugehörige Satz keine Kraft mehr.

Wir werden frei.

Ein wissenschaftlich erforschter Ansatz.

Entwickelt wurde die Introvision von Angelika C. Wagner. Als Professorin an der Uni Hamburg hat sie den Ansatz dabei immer wieder empirisch überprüft und konnte seine Wirkung unter   unterschiedlichsten Bedingungen feststellen: u. a. bei Studenten vor Prüfungen, bei Suchtverhalten, bei Menschen mit chronischen Beschwerden oder bei Entscheidungsproblemen. Außerdem wird die Introvision zunehmend als Mentaltraining im Spitzensport angewandt.

Ich werde weitgehend auf das Vokabular und den von Angelika Wagner entwickelten theoretischen Hintergrund verzichten, da beides sehr wissenschaftstheoretisch „rüberkommt“ und aus meiner Sicht hier in der Kürze mehr zur Verwirrung als zur Klarheit beiträgt.

Im Anschluss an ein Fallbeispiel werde ich die Introvision noch in mein Verständnis von Veränderung und Persönlichkeitsentwicklung einordnen.

Das Fallbeispiel „Ich muss mehr lächeln“.

Angelika Wagner schildert in ihrem Buch „Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte“ ein sehr eindrückliches Beispiel über Vorgehen und Wirkung der Introvision (S. 192ff).

Eine junge Frau hat gerade den Wohn- und Studienort gewechselt und es ist ihr sehr wichtig, jetzt Freundschaften mit Einheimischen schließen. An ihrem alten Wohnort ist ihr das nicht gelungen, von daher will sie unbedingt vermeiden, dass dies erneut passiert. Ihre Hauptstrategie dafür lautet: mehr lächeln. Für die Frau ist dieses „mehr lächeln“ ein Synonym für eine freundliche und einladende Wirkung auf andere.

In der Introvision versucht sie zunächst herauszufinden, was bei diesem Thema ihre Forderungen an sie selbst sind. Die erste Forderung lautet: „Ich muss lächeln.“

Daraufhin stellt sie fest: „Aber es kann sein, dass ich nicht lächle.“ – Auf die innere Nachfrage „Und was ist so unangenehm oder schlimm daran, nicht zu lächeln? Was passiert dann?“ taucht der Satz auf: „Dann wirke ich nicht freundlich und einladend.“

Hier erkennt sie eine weitere Forderung an sich selbst: „Ich muss freundlich und einladend wirken.“ Wieder stellt sie fest: „Es kann sein, dass ich nicht freundlich und einladend wirke.“ – „Und wo ist das Problem, so nicht zu wirken?“ – „Dann bin ich ganz allein!“ Ihre Forderung an sich selbst lautet also: „Ich darf nicht allein sein!“.

Achtsam konstatiert sie: „Aber es kann sein, dass ich allein bin:“ – „Und was ist so unangenehm daran? Was bedeutet das?“ – „Dann zeigt sich, dass ich nicht geliebt werde.“ Hier findet die Frau zu ihrer Kernforderung an sich selbst: „Ich will geliebt werden.“

Es kann sein, dass der schlimmste Fall eintritt.“

Die größte Bedrohung oder Befürchtung hinter dem Anspruch „mehr zu lächeln“ für die junge Frau ist, dass sie nicht geliebt wird. Sie will alles dafür tun, dass dieser Fall nicht eintritt.

Das eigentliche Problem, die tiefste Selbstanweisung heißt also: „Es darf nicht sein, dass ich nicht geliebt werde.“ Sobald eine Situation einzutreten droht, in der sie subjektiv erlebt, nicht geliebt zu werden, werden all ihre Handlungen durch den Satz „Tue alles, damit das nicht eintritt.“ gesteuert.

Die Auflösung des Problems liegt in der Introvision nun darin, sich genau diesen Fall vor Augen zu halten: „Es kann sein, dass ich nicht geliebt werde.“ Dieser Satz löst starke Gefühle aus, meistens Angst. Die Kunst besteht jetzt darin, den Satz zu sagen und auftretende Gefühle, Körperempfindungen und weitere Gedanken achtsam wahrzunehmen.

Die Kraft der Achtsamkeit.

Achtsamkeit bedeutet, dass ich alles wahrnehme, was an Gedanken, Gefühlen,  Körperempfindungen, inneren Bildern oder äußeren Reizen in diesem Moment da ist – aber ohne sie zu bewerten, zu beurteilen oder begrifflich festzulegen.

Achtsamkeit schafft Abstand und sorgt für eine Unterbrechung des sonst automatischen Reagierens auf Reize von innen oder außen. Angelika Wagner benutzt hierfür den Begriff „Konstatierend Aufmerksames Wahrnehmen (KAW)“. Mehr zur Achtsamkeit finden Sie in diesem Blog-Artikel.

Gelassen und handlungsfähig ohne aktives Tun.

Die Frau wendet nun zwei Wochen lang jeden Morgen eine halbe Stunde das achtsame Wahrnehmen auf ihre Kernforderung und die damit verbundenen Gefühle an. Schon in den ersten Tagen fühlt sie sich „seltsam entspannt“ – und lächelt spontan mehr.

Die Übung fällt ihr mit der Zeit immer leichter und sie bekommt so etwas wie eine „egalitäre Einstellung gegenüber ihrem ‚Sorgenkind’“. In der dritten Woche bemerkt sie bei einem Problem mit einem Mitbewohner, dass das unangenehme Gefühl verschwunden ist. Auch die Kernforderung an sich selbst „Ich will geliebt werden.“ ist nicht mehr so einfach auszumachen.

Im Umgang mit Menschen bemerkt sie, dass sie häufiger lächelt. Aber vor allem geht sie entspannter und erfolgreicher in den Kontakt mit anderen Menschen – mal mit und mal ohne zu lächeln.

Die Veränderung in die gewünschte Richtung findet statt, ohne dass die Frau aktiv eine neue Verhaltensstrategie anwendet. „Es passiert einfach“ – nachdem sie zuvor Introvision angewandt hat. Sie wird gelassen und souveräner. Sie handelt, ohne im Kopf zu haben: „So muss ich handeln, damit ich neue Freunde finde.“

Warum eine Befürchtung ihre Wirkmacht verliert.

Wenn es gelingt, in der Introvision in der achtsamen Haltung zu verweilen, während man seinen persönlichen „schlimmsten Fall“ vor Augen hat, geschieht etwas Erstaunliches: die Erregung des Körpers nimmt fast immer schnell ab. Die Angst bzw. die starken körperlichen Empfindungen können sich nicht halten. Und damit verliert auch der Satz „Es darf nicht sein, dass ich nicht geliebt werde.“ seine Kraft.

Es ist so, als würde man aus einem Luftballon die Luft rauslassen. Hinter dem bisher so gefürchteten Satz steckt keine Energie mehr, denn diese Energie war ja nur im Körper in Form von unangenehmen Empfindungen und Gefühlen.

Gefahren und Bedrohungen für unser Wohlergehen, für unsere Psyche, erscheinen uns sehr real. Sie sind zwar oft unbewusst, steuern aber doch sehr wirkungsvoll unser Verhalten. Bringen wir diese Befürchtungen in das Licht der Bewusstheit (was nur ein anderer Name für Achtsamkeit ist), erhalten sie durch das bloße Wahrnehmen keine neue Nahrung mehr. Sie beginnen, ihre Wirkmacht zu verlieren.

Lebendig bleiben die Befürchtungen nur, wenn wir die dazugehörigen Sätze weiter glauben und so immer wieder die entsprechenden Gefühle produzieren. Von einer spirituellen Ebene aus betrachtet kann man sagen, dass die Befürchtungen noch nie real waren, sondern nur als Vorstellung in unserem Geist existierten.

Diese Sichtweise wird sehr schön am Ende dieses Videoclips deutlich:

Anmerkungen zur Anwendung der Introvision.

  • Im Kern trifft man bei der Introvision meistens auf drei Erfahrungen, die unbedingt zu vermeiden sind: ein Gefühl der Hilflosigkeit, der Wertlosigkeit und des Ungeliebtseins. Sie berühren uns existenziell und wir tun nahezu alles, um zu vermeiden, dass wir dies erleben.
  • Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung ist Erfahrung mit der Praxis der Achtsamkeit. Bevor die Introvision angewandt wird, ist es notwendig, über einige Wochen Achtsamkeit mit anderen Objekten (z. B. Geräuschen, Gerüchen, visuelle Reizen oder dem Atem) zu üben. Auch die Frau im Fallbeispiel hatte zuvor über längere Zeit Achtsamkeit geübt. Ist diese Fähigkeit zur Achtsamkeit nicht vorhanden, verliert man sich sofort in dem unangenehmen Gefühl oder will es loswerden. Oder man versucht, dem inneren Konflikt durch ausweichende Gedanken wie Relativieren, Beklagen oder Bagatellisieren zu entkommen.
  • Das „sich in Luft auflösen“ des unangenehmen Gefühls geschieht von Person zu Person und von Fall zu Fall verschieden. Manchmal löst sich die innere Anspannung sehr schnell, manchmal ist die Veränderung unscheinbar. Meistens braucht es aber das wiederholte Anwenden der Introvision über einige Wochen, um das Gefühl von der gedanklichen Forderung an sich selbst zu entkoppeln.
  • Wie im Fallbeispiel deutlich wird, ist die Introvision gut für die Selbstanwendung geeignet.Für die ersten Male empfiehlt es sich jedoch, die Introvision mit der Unterstützung eines Coaches zu machen. So ist es meist deutlich leichter, die verschiedenen Forderungen an sich selbst genau zu erkennen und nicht aus dem achtsamen Wahrnehmen des unangenehmen Gefühls „herauszufallen“. Auch das Erlernen der Achtsamkeit geschieht sinnvollerweise zunächst mit einem Trainer (oft in einer Gruppe).

Heute brauchen wir die Muss-Darf-nicht-Gefühle nicht mehr.

Positive Ansätze zur Persönlichkeitsveränderung, die uns in Kontakt mit unseren Fähigkeiten, Wünschen und Ressourcen bringen wollen, sind wichtig und wertvoll, reichen aber oft nicht aus. Vom Ursprung unseres Wesens wollen wir unser Überleben sichern. Das tun wir durch die Abwendung von Gefahren. Die Vermeidung von (vermeintlich) gefährlichen Situationen ist also tief in uns verankert.

Als Kinder sind wir völlig abhängig vom Wohlwollen anderer Menschen. So haben wir gelernt, bestimmte Situationen, die wir als bedrohlich empfunden haben, „nie wieder“ zu erleben. Doch als Erwachsene können wir erkennen, dass wir  psychisch heute nicht mehr bedroht sind und auch nicht bedroht werden können.

Mit der Methode der Introvision können wir diese Erkenntnis hautnah machen. Wir erleben, dass Befürchtungen von „Ich muss…“, „Ich darf nicht…“ und die dazugehörigen Körpergefühle uns nichts anhaben können. Ganz im Gegenteil: sie haben heute keine Kraft und keine Realität mehr.

So finden wir zu einer grundlegenden Gelassenheit in uns und können zugleich souverän handeln. Stress und innere Blockaden haben wir nur, solange wir dem „Schlimmgefühl“ nicht achtsam ins Gesicht schauen.

Wo wären Sie gerne gelassen und souverän handelnd? Welchen Befürchtungen würden Sie gerne achtsam ins Gesicht schauen?

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2 Kommentare
  1. Liebe Kirsten, es freut mich, dass dir der Artikel und die Seite insgesamt gefällt.

  2. Hallo, du hast sehr schön und mit einfachen Worten die Introvision nach Prof.Wagner zusammengefasst. Verständlicherweise feht dabei die Tiefe, die die Zusammenhänge zwischen der Imperativverletzung und bspw. physischen Symptomen, wie Verspannungen etc., erklärt. Die meisten Menschen erkennen nicht den Zusammenhang von körperlicher Symptomatik und tiefen seelischen Konflikten (oder wollen sie nicht erkennen). Die Kernimperative setzen sich nicht nur aus 3 zusammen, es gibt Imperativbäume und nicht immer muß man zu einem Kernimperativ vordringen, um ein Problem zu lösen.
    Herzlichen Glückwunsch zu Deiner Seite im Allgemeinen. Ich finde sie sehr gelungen.

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