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Was Sie mit einem Obdachlosen gemeinsam haben

von Ingo Zacharias am 2. Dezember 2010

In der 37 Grad Sendung „Von unten auf die Bühne“ wurde gezeigt, wie der Konzertpianist Stefan Schmidt aus Außenseitern der Gesellschaft – Obdachlosen, Drogenabhängigen, Alkoholikern und Prostituierten – einen Straßenchor zusammenstellt, der schließlich einen Auftritt vor einem Millionenpublikum hat.

Wahrscheinlich haben wir ein intuitives Gespür dafür, worin die Schönheit dieser Initiative liegt:

  • die „Außenseiter“ rücken – zumindest für diese Zeit – wieder in die Mitte der Gesellschaft
  • die Menschen erfahren, dass sie etwas können und stärken damit ihren Selbstwert
  • sie erleben, dass ihre Fähigkeiten von anderen gesehen und gewürdigt werden
  • im Chor spüren sie die Kraft einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt und trägt – in guten wie in schwierigen Zeiten

Und was Sie jetzt mit diesen Menschen gemeinsam haben? – Die tiefe Sehnsucht nach Erfüllung grundlegender menschlicher Bedürfnisse. Also den Bedürfnissen nach

  • Zugehörigkeit (zur Gesellschaft als Ganzes und zur Chorgruppe)
  • dem inneren Erleben von einem grundsätzlichen Wert als Mensch – sich auch mit seinen Schwächen angenommen fühlen
  • Unterstützung von anderen erfahren – Fähigkeiten in sich zu sehen und sie ausdrücken können
  • Wertschätzung und Anerkennung von anderen Menschen erfahren
  • Teilhabe in der Gesellschaft mit den eigenen Fähigkeiten
  • helfen, für andere Menschen da sein

Bei diesen Menschen, die augenscheinlich „auf die schiefe Bahn“ geraten sind, fällt es uns leichter, den Wert dieser Bedürfnisse zu erkennen und sie diesen Menschen auch zuzugestehen. Aber wie sieht es mit uns selbst aus? Ist uns bewusst, dass fast unser ganzes Denken und Handeln auf die Erfüllung dieser Bedürfnisse ausgerichtet ist? Und benutzen wir dafür Wege und Strategien, die uns wirklich zu einem positiven Erleben dieser Bedürfnisse bringen?

Oder benutzen wir, die wir eigentlich in der „Mitte der Gesellschaft“ stehen, nicht wie diese Menschen eher Ersatzstrategien, die bei uns Geld, Status, Macht oder ein gesteigertes „anderen helfen müssen“ heißen?

Ist uns bewusst, dass es sich dabei eigentlich nicht um Bedürfnisse im Sinne von „ICH brauche“, sondern um Lebensqualitäten handelt, die etwas ganz natürliches in uns sind und die unser aller Leben erst zu einem menschlichen Leben macht?

Hier ein kleines Experiment, um zu schauen, wie natürlich diese Seinsqualitäten für Sie sind (mit einem Dank an Roland Kopp-Wichmann für die Übung der achtsamen Innenschau mit hilfreichen Sätzen):

Setzen Sie sich aufrecht hin und spüren für einige Momente, wie Ihr Atem kommt und geht. Spüren Sie ganz bewusst die Bewegung des Atems im Bereich des Bauches.

Wenn Sie so etwas in den Zustand innerer Achtsamkeit getreten sind, richten Sie Ihre Achtsamkeit sanft auf folgende Sätze. Dabei schauen Sie in sich hinein, ob es unmittelbar nach dem Lesen des Satzes eine Resonanz in Ihrem Körper, Ihren Gefühlen oder Gedanken gibt – egal ob positiv oder negativ. Gehen Sie dann nach 10-15 Sekunden ohne weiteres Nachdenken zum nächsten Satz.

  • Ich fühle mich als ein wertvoller Teil meiner Familie, in meinem Freundeskreis, meiner Firma, der Gesellschaft.
  • Ich darf mich anderen so zeigen, wie ich bin – mit meinen Fähigkeiten und meinen Schwächen.
  • Ich tue mit meinem Können gerne etwas Gutes für andere Menschen.
  • Ich darf mir von anderen Hilfe und Unterstützung holen.
  • Meine Fähigkeiten bringe ich mit meinem ganzen Herzen in die Gesellschaft ein.
  • Ich spüre eine innere Freude, eine innere Wärme, wenn mir andere positives Feedback geben.
  • Ich bin ein wertvoller Mensch.

Wie ging es Ihnen innerlich beim Aussprechen dieser Sätze? Hüpfte Ihr Herz an einer Stelle vor Freude, spürten Sie Trauer oder Anspannung? Hatten Sie Gedanken wie „Ja, das würde ich gerne“, „Das darf ich nicht“? – Oder blieben Sie innerlich ruhig und nahmen die Sätze wie „selbstverständlich“ auf?

Wenn Sie in einer „full joyful ownership of all needs“ (Miki Kashtan) leben, diese Qualitäten also wirklich als ganz natürlich für sich verinnerlicht haben, werden Sie keine große innere Reaktion spüren. Einfach, weil es ja normal für Sie ist. Eine stärkere Reaktion, egal in welche Richtung, zeigt Ihnen dagegen, dass Sie hier nicht einfach im Einklang mit diesen Sätzen sind.

Ein wichtiger Hinweis an dieser Stelle: wenn Sie hier keine innere Reaktion hatten, kann das auch daran liegen, dass Sie nicht so ohne weiteres in ganz kurzer Zeit in Kontakt mit Ihrem Inneren, Ihrem Herzen, kommen konnten. Das ist für die meisten von uns nicht ungewöhnlich, da wir sehr stark im Kopf leben und nicht im Körper. Hier ist die Praxis die Achtsamkeit sehr wichtig. Mit ihr entwickeln wir eine immer feiner werdende Bewusstheit darüber, was gerade in uns vorgeht.

Solange wir diese Seinsqualitäten nicht wirklich als etwas ganz Menschliches ansehen, als etwas, was uns und allen anderen Menschen „zusteht“, leben wir genauso in einem Gefühl von Mangel, Unsicherheit oder sogar Verzweiflung wie diese obdachlosen, drogen- und alkoholabhängigen Menschen, bevor Sie in den Chor kamen.

Ist es für Sie erstrebenswert, ein ganz natürliches Empfinden für diese Seinsqualitäten zu haben?

Was steht Ihnen dabei innerlich im Weg? Welche Einstellungen, welche inneren Glaubenssätze und Gefühle hindern Sie daran?

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