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Erlebte Beratung: Wie Paare in 60 Minuten eine langjährige Konfliktdynamik durchbrechen – Teil 1

von Ingo Zacharias am 2. Februar 2011

Immer wieder sind meine Partnerin Ute Niemann und ich fasziniert von den intensiven und schnellen Veränderungs- prozessen, die bei Paaren mit der Erlebten Beratung ausgelöst werden. Die Paare kommen meistens mit unlösbar erscheinenden und oft langjährigen Konflikten zu uns in die Beratung und suchen Klarheit, ob und wie es zu zweit weitergehen kann. Und fast immer sitzen sich nach 60 Minuten der ersten Sitzung (oft braucht es gar nicht so lange) zwei Menschen gegenüber, die so in einer Herzensverbindung sind, als hätte es nie ein Problem gegeben.

Wie ist das möglich?

Um dieses Phänomen zu verstehen, möchte ich den Ansatz der Erlebten Beratung hier genauer darstellen. Entwickelt wurde der Ansatz von Michael Mary im Rahmen seiner fast 30-jährigen Tätigkeit als Einzel- und Paarberater.

Die zentralen Annahmen der Erlebten Beratung sind für mich:

  • Das Problem ist die bisher bestmögliche Lösung.
  • Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Persönlichkeitsteilen, die alle versuchen, grundlegende menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.
  • Die körperliche und räumliche Darstellung innerer und äußerer Abläufe sorgt für eine unmittelbare Bewusstseinserweiterung.
  • Veränderung geschieht nicht durch Ratschläge von außen, sondern wenn ein Persönlichkeitsteil da ist, der die erwünschten Handlungen vollziehen kann.
  • Ein Paarkonflikt ist letztlich immer ein innerer Konflikt.

Ein Praxisbeispiel:

Anna und Peter sind seit 6 Jahren zusammen. In der Beratung klagt Anna, dass Peter sich immer mehr zurückzieht und sie kaum noch Zeit gemeinsam verbringen. Peter sagt, er brauche halt Zeit für die Dinge, die nur ihm wichtig sind. Beide geraten darüber immer wieder in teils heftige Streitereien. Sie kommen in die Beratung, weil sie zwar einerseits zusammen bleiben möchten, andererseits aber so keine gemeinsame Zukunft sehen.

 

Nachdem beide ihre Sichtweise des Konflikts geschildert haben, bitten wir sie, aufzustehen und eine Position zu finden, die ihr momentanes Mit- bzw. Gegeneinander in einer Körperhaltung ausdrückt. Schnell finden beide zu einer stimmigen Konstellation. Peter steht dabei mit vor der Brust verschränkten Armen etwa einen Meter von Anna entfernt, während Anna beide Arme offen in Peters Richtung hält, den Oberkörper etwas nach vorne gebeugt und den Kopf leicht nach vorne gezogen.

 

Gemeinsam erforschen wir nun, WER sich denn dort jetzt gegenübersteht. Schließlich finden beide zu einer treffenden Bezeichnung: der „Sichere“ und die „Nähe-Fordernde“. Wir fragen den „Sicheren“, warum es denn so wichtig ist, „sicher“ zu sein. Ohne zu zögern kommt die Antwort: „Sonst kann ich nicht machen, was ich will!“ Dabei wird Peters Haltung noch starrer.

 

Nach einigem Erforschen der Persönlichkeitsteile „Sicherer“ und „Nähe-Fordernde“ bitten wir beide, sich zu setzen und wieder als „Peter“ und „Anna“ zu sprechen. Wir fragen Peter: „Was ist so schlimm daran, nicht tun zu können, was Sie wollen?“ – „Dann hätte ich das Gefühl, überhaupt nicht wichtig zu sein. Gegenüber Anna habe ich das Gefühl, mich ständig unterordnen zu müssen. Aber ich will auch meine Meinung sagen dürfen.“ Dabei wird seine Stimme leiser, der Körper entspannt sich und die Augen werden etwas glasig.

 

Anna reagiert auf diese Selbstoffenbarung von Peter überrascht. Sie sagt, dass sie doch nur gerne mit ihm gemeinsame Zeit verbringen möchte und es nicht ihr Anliegen sei, immer zu bestimmen, was gemacht wird. Sie habe gedacht, wenn sie nichts initiiere, würden sie gar nichts gemeinsam machen und nur noch nebeneinander her leben. Auch ihr Körper wirkt entspannter und die Gesichtszüge werden weicher.

 

Wieder fragen wir die beiden, WER sich denn da jetzt gegenübersteht. Auch hier finden beide schnell einen stimmigen Begriff: der „Selbstbestimmte“ und die „Verbindung-Genießende“.

 

Nach einem weiteren kurzen Austausch liegen sich Anna und Peter mit Tränen in den Armen.

 

Diese verdichtete Darstellung macht den Prozess und die genannten Annahmen der Erlebten Beratung deutlich:

1. Das Problem ist die bisher bestmögliche Lösung.

Gewöhnlich sehen wir die Ist-Konstellation des Paares als das Problem an. Deswegen kommt das Paar in die Beratung und will es lösen oder loswerden. Dabei wird übersehen, dass das Verhalten beider Seiten die bisher bestmögliche Lösung für ein vorher entstandenes Problem ist. Das ursprüngliche Problem war der „Unsichere“ (oder der „Harmonische“), also der Teil in Peter, der nicht klar seine Meinung äußern und sich abgrenzen konnte. Wichtig ist dabei, dass dieser Teil nicht im Büro oder mit Freunden vorhanden sein muss, sondern oft nur in einer bestimmten Umgebung – hier in der Beziehung – auftritt. Die Lösung war nun der „Sichere“, der „Sich-Zurückziehende“.

Durch die Nachfrage „Was ist so schlimm daran sich unterzuordnen?“ wurde Peter aber schnell bewusst, dass es einen Teil in ihm gibt, der sich selbstbewusst und ohne Angst gegenüber Anna mitteilen möchte, der gerne einen Austausch über gemeinsame Aktivitäten, über Einkäufe für die Wohnung etc. auf Augenhöhe möchte und dem es nicht primär um eine Abschottung zur Durchsetzung eigener Interessen geht.

Man könnte sagen, dass aus der unechten nun eine echte Lösungsfigur wird: nämlich der „Selbstbestimmte“ oder der „Klare“. Und auch bei Anna kommt ‚eine Andere’ zum Vorschein: die „Verbindung-Genießende“ oder die „Weiche“.

2. Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Persönlichkeitsteilen, die alle versuchen, grundlegende menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.

Der Mensch ist psychisch keine monolithische Einheit. Je nach Situation treten bestimmte Aspekte unserer Persönlichkeit in den Vordergrund, z. B. der „Fürsorgliche“, die „Kämpferin“, der „Egoistische“ oder die „Verständnisvolle“. Sie alle haben im Sinn, allgemeine menschliche Bedürfnisse wie materielle Sicherheit, Zugehörigkeit, Wertschätzung, Selbstbestimmung und Teilhabe für uns zu erfüllen.

Allerdings sind dabei bestimmte Persönlichkeitsteile geschickter als andere, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. (Eine Liste mit Bedürfnissen und eine Abgrenzung zu Verhaltensstrategien finden Sie hier.) Allgemein kann man sagen, dass Teile, durch die ich mich getrieben fühle oder ein körperliches Empfinden von Verhärtung, Verschließen und Durchhalten-Müssen habe – wie Peter mit seinem Rückzug –, nicht wirklich für meine Bedürfnisse sorgen.

Diese Teile schützen mich zwar vor dem Gefühl der Verletzlichkeit, aber damit schneiden sie mich auch vom direkten Kontakt zu Bedürfnissen wie Zugehörigkeit und Autonomie ab. Erst wenn ich mit Teilen in mir in Verbindung bin, die ein inneres Erleben von Entspannung, Weichheit und Klarheit auslösen, bin ich wirklich bei einem zentralen Bedürfnis von mir angekommen – und kann von dort auch die Bedürfnisse des anderen fühlend verstehen.

Zur Orientierung dient folgende Faustregel: Von hart zu weich, von unklar zu klar, von selbstzweifelnd zu selbstbewusst.

In Teil 2 finden Sie weitere Erläuterungen zum Prozess der Erlebten Beratung, Antworten auf die Fragen „Und wie geht es nach der ersten Sitzung weiter?“, „Gibt es dann immer ein Happy-End für die Beziehung?“ sowie ein Video mit einer Paarberatung von Michael Mary zum Thema „Passen wir überhaupt zusammen?“

© Foto oben: Jochen Heym / photocase.com

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