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Erlebte Beratung: Wie Paare in 60 Minuten eine langjährige Konfliktdynamik durchbrechen – Teil 2

von Ingo Zacharias am 8. Februar 2011

Die Erlebte Beratung ist eine intensive und zeitsparende Methode, um Menschen in der Einzel- oder Paarberatung in Kontakt mit dem Kern ihres Problems zu bringen. In diesem Kern findet immer eine Selbstoffenbarung über ein wichtiges menschliches Bedürfnis wie Verbindung, Nähe oder Selbstbestimmung statt. In Teil 1 dieses Artikels finden Sie hierzu ein Beispiel aus der Paarberatung von Ute Niemann und mir.

In Teil 2 möchte ich die Erlebte Beratung weiter erläutern sowie auf die Fragen „Wie geht es nach der ersten Sitzung weiter?“ und „Gibt es immer ein Happy-End?“ eingehen. Am Ende finden Sie ein Video einer Paarberatung zum Thema „Passen wir überhaupt zusammen?“

Hier noch einmal die ersten beiden Annahmen zur Erlebten Beratung (Details hierzu in Teil 1):

1. Das Problem ist die bisher bestmögliche Lösung.

2. Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Persönlichkeitsteilen, die alle versuchen, grundlegende menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.

3. Die körperliche und räumliche Darstellung innerer und äußerer Abläufe sorgt für eine wirksame Bewusstseins- erweiterung.

Neben dem Gespräch werden im Prozess der Erlebten Beratung körperliche Haltungen und räumliche Positionen miteinbezogen. Dies führt zu einer Verlangsamung und Verdichtung des Erlebens. So werden für die Partner (und die Berater) Gedanken, Gefühle, Wünsche und Interaktionsmuster in sehr kurzer Zeit be-greifbar, die ihnen vorher nicht oder nur teilweise bewusst waren.

Außerdem führt dieses Erleben wie von selbst zu der gefühlten Erkenntnis: „Das ist ja verrückt, was ich da mache. So erreiche ich nie, was ich eigentlich möchte.“ Oder: „Mensch, unglaublich, wie wir uns da gegenseitig das Leben schwer machen.“

Aus dem Begreifen, worum es jedem der Partner eigentlich geht – nämlich einem universellen menschlichen Bedürfnis – sowie dem Erleben des ungeschickten Verhaltens, entstehen dann organisch die echten Lösungsfiguren (zu diesem Begriff finden Sie mehr unter „Das Problem ist bisher bestmögliche Lösung“ in Teil 1 dieses Artikels). Außerdem entsteht wieder eine Verbindung der Partner von Herz zu Herz oder zumindest eine Haltung echten Respekts vor dem, was den anderen im Innersten bewegt.

4. Veränderung geschieht nicht durch Ratschläge von außen, sondern wenn ein Persönlichkeitsteil da ist, der die erwünschten Handlungen vollziehen kann.

Unzählige Selbsthilfe-Bücher für Paare sagen uns, wie wir uns verhalten sollen: offen, verständnisvoll, dem anderen zuhören, Ich-Botschaften verwenden etc. All das ist den meisten Paaren bekannt, aber diese – in sich richtigen – Ratschläge helfen ihnen in einer konkreten Konfliktsituation ganz selten weiter. Warum? Weil die üblichen Fragen wie „Was soll ich tun?“ oder „Wie soll ich mich verhalten?“ die falschen Fragen sind.

Die zentrale Frage lautet vielmehr: „WER in mir ist in der Lage, es zu tun?“

Jeder von uns hat ein bestimmtes Selbstbild, eine bestimmte Identität. Alles, was für uns dazu gehört, bezeichnen wir als „Ich“. Alles, was nicht dazu gehört, ist „Nicht-Ich“. Definiere ich mich etwa besonders als eine „Helfende“, ist es wahrscheinlich, dass ich ständig für andere da bin und die „Für-Sich-Selbst-Sorgende“ nicht ein Teil meines Selbstbildes ist und so auch nicht gelebt wird. Sie ist ein „Nicht-Ich“.

Wenn jemand z. B. in sich die Überzeugung trägt „Meine Meinung zählt hier nicht.“ gibt es keinen Persönlichkeitsteil in ihm, der „selbstbewusst seine Meinung vertritt“. Dieser Teil gehört nicht zur eigenen Identität. Das Faszinierende des Prozesses der Erlebten Beratung ist nun, dass die Klienten im Laufe ihrer Selbsterforschung ihre Identität in Bezug auf das konkrete Problem verändern bzw. erweitern. Sie entdecken, dass sie auch ein „Selbstbestimmter“ sind. Und sie wissen dann auch ohne weitere Hinweise von außen mit erstaunlicher Klarheit und Kreativität, was konkret zu tun ist.

5. Ein Paarkonflikt ist letztlich immer ein innerer Konflikt.

In einer Krise der Partnerschaft sehen wir meistens die Hauptverantwortung zunächst beim Partner. Wenn wir etwas genauer hinschauen, erkennen wir, dass beide zum Konflikt beitragen und durch ihre Interaktion den Konflikt verschärfen. Und schließlich wird klar, dass das eigentliche Problem darin liegt, dass wir uns selbst nicht die „volle, freudvolle In-Besitznahme aller menschlichen Bedürfnisse“ (Miki Kashtan) als natürliches Recht unseres Lebens zugestehen. Anders ausgedrückt: ein Teil diese grundlegenden Bedürfnisse gehört – oft lange unbewusst – nicht zu meiner Identität.

Ein Problem entsteht für uns erst, wenn Bedürfnisse bzw. Persönlichkeitsteile, die bisher zum „Nicht-Ich“ gehören, doch in unser Leben drängen. Sich immer anzupassen ist nur dann ein Problem, wenn in uns jemand auch das Gegenteil leben will. Alleine zu leben ist nur dann ein Problem, wenn da jemand in uns ist, der sich Gemeinschaft wünscht.

Wenn wir uns alle grundlegenden Bedürfnisse ganz selbstverständlich zugestehen könnten, sie also als „Ich“ ansehen würden, könnten wir sie in aller Ruhe unserem Partner mitteilen. Wir könnten ohne jedes Drama, ganz gelassen und klar, darüber reden – und auch die Bedürfnisse des Partners sehen und wertschätzen.

In diesem tiefen Kontakt mit mir selbst ist kein Konflikt mit dem Partner im Sinne einer aggressiven Konfrontation mehr möglich. Bei verschiedenen Bedürfnissen kann es höchstens zu so etwas wie einer „erfüllten Ratlosigkeit“ oder „warmen Traurigkeit“ zwischen den Partner kommen.

Und wie geht es weiter?

Das Erleben einer Herzensverbindung – oft nach langer Zeit – ist für die Partner ein sehr beglückendes Gefühl. Beide haben Kontakt gefunden zu einer anderen Ausdrucksform ihrer Bedürfnisse und sich neu erlebt. Doch dieser neue (oder wieder belebte) Persönlichkeitsteil, der dies kann, droht im Stress des Alltags wieder an Präsenz zu verlieren.

Deshalb ist es notwendig, diesen Persönlichkeitsteil in einigen weiteren Sitzungen zu stärken und ganz konkret anhand von schwierigen Situationen zu üben, wie beide Partner jetzt aus diesem Teil heraus gut miteinander reden können und zu konkreten Problemlösungen kommen. Hierbei werden in der Beratung auch verschiedene Techniken der Kommunikation, wie in „Ich-Botschaften reden“ oder „einfühlsam zuhören“, bewusst geübt.

Manchmal ist es zusätzlich sinnvoll, die Beweggründe der Problemfigur näher zu erforschen, denn das alte Verhalten unterliegt ja einer starken Gewohnheitsenergie und ist nicht so einfach weg. Mit dem besseren Verstehen der Problemfigur ist es dann leichter möglich, nicht mehr automatisch aus ihr heraus zu handeln, sondern aus dem neuen, erwünschten Persönlichkeitsteil.

Nach 4-6 Sitzungen haben die Partner ihre individuelle sowie die Paaridentität in Bezug auf ihr Problem verändert und neue Verhaltensmöglichkeiten erprobt. Die Chancen stehen jetzt gut, dass die Partner im Alltag anders präsent sein und heilsamer miteinander umgehen können.

Auch eine Trennung ist möglich.

Endet jetzt jeder Prozess der Erlebten Beratung mit einem Happy-End? Nein, und das ist auch nicht das Ziel. Es kann sehr wohl im Verlauf des Beratungsprozesses deutlich werden, dass bestimmte unterschiedliche Bedürfnisse jetzt so dominant sind und nach Erfüllung im Außen streben, dass es keine gemeinsame Zukunft gibt. So möchte der Mann z. B. jetzt eine Familie gründen und die Frau jetzt alleine auf Weltreise gehen und sich selbst finden.

Diese Erkenntnis mag traurig machen und schmerzhaft sein, aber durch das gegenseitige gefühlte Verstehen und das Erkennen, dass die Wünsche nicht gegen mich als Mensch gerichtet sind, ist doch ein wertschätzender und friedvoller Umgang miteinander in der Folgezeit möglich.

Ein Videobeispiel

Zum Abschluss können Sie hier noch ein Praxisbeispiel der Erlebten Beratung von Michael Mary unter der Überschrift „Wir passen einfach nicht zusammen“ sehen:

 

Wo ist es bei Ihnen schwierig in der Beziehung? Und wie gehen Sie damit um?

© Foto oben: Jens Schmidt – Fotolia.com

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