Skip to content

Raus aus Opferland – Der Weg der Versöhnung mit „ungerechten“ Lebensumständen

von Ingo Zacharias am 23. Februar 2011

„Wenn du einem Unheil begegnest, ist es gut, dem Unheil zu begegnen. Dies ist die wunderbare Weise, dem Unheil zu entrinnen.“ – Ryokan

Ich habe gerade das bewegende Buch „Leben oder gelebt werden“ von Walter Kohl gelesen. Kohl? Ja, Kohl. DER Kohl! Also der Sohn von Helmut Kohl!? – Und damit ist auch schon das Kernproblem benannt, das Walter Kohl in seinem Buch beschreibt:

Zeit seines Lebens sehen die Menschen in ihm fast nur den „Sohn vom Kohl“. Sie sehen seinen Vater, obwohl sie vor ihm stehen. Sie drücken das aus, was sie an seinem Vater bewundern oder ablehnen, obwohl sie mit ihm sprechen.

Können Sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn Sie kaum als eigenständige Person wahrgenommen werden, sondern fast immer nur als „der Sohn von…“ oder „die Tochter von…“? Wie dies einen tiefen Zweifel in Sie hinein gräbt, wer Sie selbst sind und wie wertvoll Sie sind – unabhängig von den positiven oder negativen Bewertungen, die Ihnen über Ihre prominenten Eltern entgegengebracht werden?

Leben oder gelebt werden?

Walter Kohl beschreibt in seinem Buch, wie er am ersten Schultag 1969 – sein Vater war einige Monate zuvor zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz gewählt worden – zum ersten Mal diese Erfahrung gemacht hat. Kinder hänselten ihn mit abfälligen Bemerkungen über seinen Vater. Ohne zu verstehen, was wirklich geschah, versuchte er sich und die Ehre seiner Familie zu verteidigen. Doch es gelang ihm nicht, und zu allem Überfluss bestrafte ihn seine Lehrerin noch mit Schlägen für seine Rauferei und auch seine Mutter hatte keinerlei Verständnis für sein Verhalten.

„Angegriffen zu werden für etwas, das vollständig außerhalb meines Verantwortungsbereichs lag – das widersprach in allen Punkten meinem Gerechtigkeitsgefühl. Zum ersten Mal stieg in mir etwas auf, das man wohl „heiligen Zorn“ nennt, eine Regung, die man selbst als uneingeschränkt gerechtfertigt empfindet, die einen aber letzten Ende nur innerlich lähmt und zu maximaler äußerer Aggression treiben kann… Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ich es verstand, und noch länger, bis ich die Energie des Zorns in Gelassenheit umwandeln konnte.“ (S. 23)

Diese Wahrnehmung als „Sohn vom Kohl“ machte ihm während der Schulzeit, der Bundeswehr und im Beruf sehr zu schaffen. Zudem hatte er in der Zeit des RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren stark unter den Einschränkungen durch die Sicherheitsmaßnahmen zu leiden.

Opferland.

In all den Jahren gab es kurze Phasen, in denen er erlebte, wie er einfach nur als „Walter“ wahrgenommen wurde. Doch insgesamt verfestigte sich ein Gefühl von Wert- und Sinnlosigkeit in seinem Leben, dass so bestimmt schien durch seine Rolle als „Sohn vom Kohl“. Innerlich erstarrte er immer mehr und sah alles „durch die Brille eines Opfers“:

„Das hat den nicht von der Hand zu weisenden Vorteil, dass man sich nicht um Auswege bemühen und keine Verantwortung übernehmen muss. Schließlich sind ja alle Schuldfragen geklärt: Immer sind es die anderen oder die Umstände, die für den eigenen Schmerz und die Misere verantwortlich zeichnen. Ja, in Opferland hat man’s leicht, auch wenn man’s schwer hat:  Man sitzt einfach nur auf dem Beifahrersitz und lässt sich als Zuschauer des eigenen Lebens durch den Alltag chauffieren … Lange Zeit war ich ein vorbildlicher Bewohner von Opferland. Ich suchte Gerechtigkeit dort, wo keine sein konnte, ich suchte Sinn dort, wo alles doch nur ein Spiel der Umstände war. Vor allem verstrickte ich mich immer wieder in der Frage nach dem Warum. Warum musste ich der „Sohn vom Kohl“ sein? Warum konnte ich nicht unbehelligt mein Leben führen wie andere Menschen? Warum, warum, warum …?“ (S. 197)

Um das Opferland, diesen Zustand innerer Selbstaufgabe, verlassen zu können, war für Walter Kohl der erste Schritt, „sich dieser eigenen Bitterkeit offen und ehrlich zuzuwenden, sie zuzulassen, sie anzunehmen.“ (S. 198f)

Jeder ist Re-Agierender und zugleich Agierender.

Wir haben als Menschen das verständliche, aber genau betrachtet höchst unlogische Verhalten, dass die Verletzung eines Gerechtigkeitsgefühls aggressive Gefühle gegen andere Menschen in uns auslöst und wir dieses Gefühle, wie Walter Kohl es so treffend formuliert, für uneingeschränkt gerechtfertigt halten.

Wie Walter Kohl erleben wir uns als Re-Agierende, und damit als Opfer. Dass sich die Eltern der Schulkameraden von Walter Kohl, deren Aussagen die jungen Kinder ja nur wiedergeben haben, sich selbst auch als Re-Agierende auf subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten von Seiten seines Vaters erleben, erschließt sich uns einfach nicht.

Wir haben immer wieder ein vermeintlich klares Empfinden von: „Der andere hat den ersten Stein geworfen.“ Will sagen: Der andere ist schuld. Und so entsteht Ablehnung, Kampf und Hass – entstanden aus einem positiven Bedürfnis nach Gerechtigkeit (oder Wertschätzung, Achtung, Respekt…). Aber so tragen wir stets auch als Agierende aktiv dazu bei, dass dieser tiefe menschliche Wunsch in Partnerschaft, Familie und Gesellschaft unerfüllt bleibt.

Haben wir auch die Sichtweise des anderen im Blick?

Walter Kohl beschreibt dies in Bezug auf seinen Vater. Bis auf ganz wenige Ausnahmen, z. B. in der Zeit der Wiedervereinigung 1989/1990, hatte er nie das Gefühl, dass sein Vater für ihn da war – zeitlich und emotional. Und dies erlebte er als sehr ungerecht. Sein angedeuteter oder zorniger Vorwurf an ihn lautete immer: „Ein Vater hat als Vater beurteilt zu werden und nicht als Bundeskanzler.“ (S. 242) Später aber erkannte er:

„Ein leidenschaftliches Eintreten für Gerechtigkeit kann in eine Sackgasse führen. Es polarisiert, statt auszugleichen. Erst seit ich aufgehört habe, die Verantwortung für unsere Probleme miteinander einseitig meinem Vater anzulasten, fühle ich mich freier. Ich muss einfach akzeptieren, dass mein Vater sich von mir wahrscheinlich genauso ungerecht behandelt fühle – und wahrscheinlich noch fühlt. Aufgrund meiner negativen Fixierung auf die Rolle als „Sohn vom Kohl“ hatte ich schlicht und einfach nicht den Blick für seine Befindlichkeit. Der Stress, den es bedeutet, sich jahrzehntelang in der politischen Welt zu bewegen und zu behaupten, schien mir unbeachtlich. Das hat mein Vater mit Sicherheit als Mangel an Wertschätzung meinerseits empfunden. Nicht zu Unrecht, aus seiner Sicht. Aus seiner Sicht sorgte er nach besten Kräften für seine Familie.“ (S. 242f)

Barack Obama beschreibt die hier zum Ausdruck kommende Fähigkeit des Einfühlungsvermögens in einer Rede von 2005 so:

„Einer der Werte, von denen ich denke, dass sie von den Menschen in besonderer Weise weitergegeben werden müssen, ist der Wert der Empathie. Nicht Sympathie, sondern Empathie. Und das bedeutet, in den Schuhen eines anderen zu stehen, in der Lage zu sein, durch seine Augen zu sehen. Manchmal sind wir so gefangen in „uns“, dass es schwer zu sehen ist, dass dort andere Menschen sind und dein Verhalten einen Einfluss auf sie hat.“

Versöhnung bringt inneren Frieden.

Dieses so nüchtern anmutende „Ich muss einfach akzeptieren“ nennt Walter Kohl „Versöhnung“. Aber es ist kein nüchterner Vorgang, wenn er wirklich tragen soll. Er muss in unserem Herzen ankommen. Erst wenn unser Herz sich öffnet für das Unabänderliche, ist dieses „einfach akzeptieren“ von einer tieferen Qualität. Erst wenn die Frage nach dem Warum zur Ruhe kommt, finden auch wir zur Ruhe.

Ja, die Umstände waren so, meine Eltern waren so – im Schlechten wie im Guten. Dies ist das Fundament auf dem ich stehe. Dieses Annehmen, dieses „mir zu Herzen nehmen“, gibt mir ironischerweise wieder Luft zum Atmen. Es gibt mir Raum in mich zu schauen, zu horchen und zu fragen: „Wer bin ich – trotz und mit den gegebenen Lebensumständen? Was will ich in diesem Leben manifestieren?“

Indem ich nicht mehr hadere und mir eine Idealwelt erträume (die zudem in der abgeschlossenen Vergangenheit erschaffen werden müsste), kann ich zu mir kommen, meinen Weg und einzigartigen Wert in „unabhängiger Abhängigkeit“ zur Grundkonstellation meines Leben gehen und finden. Walter Kohl formuliert dies so:

„Viel zu lange habe ich versucht, mein Leben in Richtung meines inneren Ideals hinzubiegen, mich in etwas hineinzuträumen, was doch nicht in meiner Macht stand, was nie realistisch war. Dabei habe ich Enttäuschungen erlebt und Menschen verletzt, nicht zuletzt auch meinen Vater. Aber er ist mein Vater, und ich werde nie einen anderen Vater haben können oder wollen. Als sein Sohn bleibe ich ihm, trotz Trennung, immer verbunden… Für die allermeisten Menschen bin ich beim Kennenlernen zunächst der „Sohn vom Kohl“. Das ist kein Problem mehr, denn nun kann ich sagen: Ich gestalte mein Leben als Walter Kohl, ich bin der „Sohn vom Kohl“. Dieses Leben nehme ich an, diesen Weg gehe ich.“ (S. 272)

Versöhnung ist ein Prozess.

Den Inhalt des Buches kann ich hier natürlich nur in mir jetzt gerade sehr prägnant erscheinenden Punkten darstellen. So beschreibt Walter Kohl z. B., dass Versöhnung ein längerer Prozess ist. Dazu gehörte für ihn neben der Wandlung seiner Sichtweise auf seiner Vater vor allem die Loslösung von seiner Mutter und die Wiederentdeckung der Liebesfähigkeit. Zudem weist er darauf hin, dass Versöhnung nicht als Wehrlosigkeit missverstanden werden darf und für ihn Zeiten der Auseinandersetzung dazugehören.

Für Menschen, die einmal einen Innenblick in das Familienleben eines „Vollblutpolitikers“ werfen möchten, den man sonst nur in der Öffentlichkeit erlebt hat, sowie für Menschen, die Interesse am Thema Versöhnung haben, kann ich dieses Buch sehr empfehlen.

 

Was bedeutet für Sie Versöhnung? Wo hängen Sie noch an der Vergangenheit und wünschen sich, es wäre anders gewesen?

_______________

 

Einen Kommentar schreiben. | Neue Artikel per RSS-Feed oder E-Mail abonnieren.

Keine Kommentare möglich.