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Die befreiende Kraft der Hingabe

von Ingo Zacharias am 17. Februar 2011

Bewusstheit ist die vollständige und bedingungslose Hingabe an das, was ist, ohne Rationalisierung, ohne die Trennung von Beobachter und Beobachtetem. – Jiddu Krishnamurti

Eckhart Tolle stellt den Bewusstseinszustand der Hingabe körperlich dar.

Das Wort „Hingabe“ gehörte nicht gerade zu den populären Begriffen unserer Zeit. Am ehesten findet es noch Verwendung, wenn jemand etwas mit großer Leidenschaft tut und ganz in einer Tätigkeit aufgeht. Dann hat dieser Mensch etwas mit „viel Hingabe“ getan. Im christlichen Kontext verbinden wir dagegen „Hingabe“ meistens mit Begriffen wie „Selbstaufgabe“ und „Hingabe an Gott“.

Wenn Sie ansonsten einmal das Wort „Hingabe“ auf sich wirken lassen, fallen Ihnen wahrscheinlich einige dieser Begriffe ein: aufgeben, ergeben, kapitulieren, sich geschlagen geben, ertragen, erdulden, ausgeliefert sein, handlungsunfähig. Das klingt nicht gerade positiv und einladend!

Aber richtig verstanden ist Hingabe eine Kraft, die unserem Leben eine tiefe innere Freiheit bringt und ein gelassenes Aktivsein in der Welt ermöglicht.

Das Gegenteil von Hingabe ist Widerstand.

Oft ist es hilfreich, einmal hinzuschauen, was das Gegenteil eines Begriffs ist, um einem bekannten, aber negativ besetzten Begriff neues Leben einzuhauchen. Also was ist das Gegenteil von „Hingabe“? – Für mich ist es „Widerstand“. Genauer: Widerstand gegen die Form, die dieser Moment annimmt.

In so einem Moment sagen wir dann innerlich immer eine Variation von: „Das kann doch nicht wahr sein. So will ich das nicht.“ Wir lehnen uns auf gegen die äußere oder innere Realität. Wir hadern, klagen, fangen an zu kämpfen.

Es ist wichtig zu betonen, dass es bei „Hingabe“ bzw. „Widerstand“ nicht um ein generelles Verhalten in meinem Leben geht, sondern immer nur um den jetzigen Moment, diese Situation… und dann die nächste Jetzt-Situation…

Viele Realitäten sind für uns schwer anzunehmen.

Hier einige Beispiele für unseren Widerstand, für unser „Aufbegehren“ gegen das, was ist. Sicherlich fallen Ihnen dabei auch Ihre ganz persönlichen Situationen ein, wo es Ihnen schwer fällt, die Realität des Moments sofort zu akzeptieren. (Suchen Sie aber nicht gleich nach den ganz großen „Katastrophen“. Aus unserem jetzigen, gewöhnlichen Geisteszustand ist da für uns Hingabe kaum vorstellbar.)

  • Sie fahren mit dem Auto in den Urlaub und haben eine Reifenpanne.
  • Sie stürzen auf dem Weg nach Hause und brechen sich den Arm.
  • Ihr Fußballverein verliert ein wichtiges Spiel mit 2:3, nachdem er zur Halbzeit noch 2:0 geführt hatte.
  • Sie haben morgens „wie aus heiterem Himmel“ starke Bauchschmerzen und können nicht zur Arbeit gehen.
  • Ihr Chef lobt Sie mit keinem Wort für eine Arbeit, in die Sie viel Zeit investiert haben.
  • Ihr Partner kommt abends nach Hause und Sie möchten etwas Wichtiges besprechen. Aber Sie bekommen als Rückmeldung nur, dass er heute keine Lust zum Reden hat.
  • Sie kriegen mit, dass Sie wieder mit aggressiven Worten auf die Ratschläge Ihrer Eltern reagieren.

Ja-Sagen gibt uns inneren Raum und Kraft.

Stellen Sie sich jetzt einmal vor, wie Sie in einer für Sie schwierigen Situation innerlich sagen: „Ja, so ist jetzt dieser Moment. Das ist die Realität dieses Augenblicks. Ich erkenne an, dass die Form dieses Moments schon Realität ist und damit stärker als meine persönlichen Erwartungen und Wünsche an diesen Moment.“

Wie fühlt sich das an? Ungewohnt, ernüchternd, erniedrigend? Oder erleichternd, befreiend, ein kleines Lächeln auf Ihr Gesicht zaubernd? Eckhart Tolle nennt diese Übung „die Herabsetzung des Ego zulassen“. In seinem Buch „Eine neue Erde“ beschreibt er den inneren Prozess, wenn wir uns im Bewusstseinszustand der Hingabe ausprobieren, sehr schön:

„Wenn dich zum Beispiel jemand kritisiert, tadelt oder beschimpft, tust du einfach gar nichts, statt sofort all deine Abwehrmechanismen zu mobilisieren und auf Rache zu sinnen. Lass es zu, dass dein Selbstbild schrumpft, und achte darauf, wie sich das in deinem tiefsten Innern anfühlt. Ein paar Sekunden lang wird es dir unangenehm sein, so, als wärst du kleiner geworden. Dann aber spürst du eine innere Weite, die du lebhaft empfindest. Du bist überhaupt nicht kleiner geworden. In Wahrheit hast du dich ausgedehnt! Jetzt machst du vielleicht eine erstaunliche Entdeckung: … Was dem Ego wie Schwäche vorkommt, ist in Wahrheit die einzig wahre Stärke.“

„Kleine Widerstände“ in Momente „kleiner Hingabe“ umwandeln.

Es ist für uns sehr schwer zu begreifen, dass innere Freiheit, Gelassenheit und freudige Aktivität erst dann wirklich in uns lebendig werden können, wenn wir lernen, unsere Arme für die Soheit dieses Augenblicks zu öffnen. Für die meisten von uns ist es sicherlich sinnvoll, bestimmte Widerstandsmechanismen aus psychologischer Sicht genauer anzuschauen und zu erkennen, welche positiven menschlichen Bedürfnisse dahinter stehen und gelebt werden wollen.

Aber bei genauem Hinschauen gibt es ganz viele Augenblicke der „kleinen Widerstände“, in denen wir uns in der spirituellen Haltung der Hingabe, also der Haltung der inneren Übereinstimmung mit der Realität dieses Moments, üben können. Und je öfter wir das tun, desto mehr werden wir spüren, wie wir an innerem Raum und an Kraft gewinnen.

„Ich reg’ mich nicht auf. Man muss es nehmen, wie es kommt.“ So sprach ein Mann, der an Heiligabend am Pariser Flughafen wegen des Schneechaos festsaß. Wäre es ihm besser gegangen, wenn er aufgebracht, wütend und verzweifelt gewesen wäre? Warum tun wir es dann so oft? Weil wir doch für unsere Interessen, Wünsche und Werte eintreten müssen?

Hingabe ist Liebe. Und Liebe handelt.

Wir denken, die Alternative ist eine Haltung der Gleichgültigkeit und Passivität. Unser eigentliches Problem besteht aber in einem fehlenden Kontakt zur Tiefe unseres inneren Friedens. Wir spüren nicht, dass diese Haltung immer auch eine Haltung der Offenheit, Verbundenheit und Liebe ist. Und diese Energie kann nicht anders als zu handeln, wenn sich die Möglichkeit bietet – kreativ und für ein Anliegen. Und nicht, um gegen etwas oder jemand anzugehen. Es ist dann ein Handeln ohne zu kämpfen, ohne einen Gegner oder Feind, aber für ein wertschätzendes Miteinander.

Byron Katie beschreibt dies in ihrem Buch „Lieben was ist“ so:

[Menschen] glauben, ohne Stress und ohne Wut würden sie nicht mehr handeln, sondern nur noch mit einem verklärten Lächeln herumsitzen. Wer auch immer den Eindruck erweckt hat, Frieden sein nicht aktiv, der hat nie den Frieden gekannt, wie ich ihn empfinde. Ich bin auch ohne Wut höchst motiviert. Die Wahrheit befreit uns, und Freiheit handelt… Ohne eine Geschichte, ohne einen Feind, ist unser Handeln spontan, klar und grenzenlos.“

In der Bewusstheit kommen wir von der innere Enge zur inneren Weite.

Die „Wahrheit“, von der Byron Katie spricht, liegt in der Erkenntnis, dass wir selbst es mit unseren gedanklichen Bewertungen und Urteilen sind, die unser emotionales Leiden erschaffen. Situationen können physisch unangenehm sein. Ob wir jedoch unser seelisches Leiden obendrauf packen, ist unsere Entscheidung. Wenn es uns gelingt, negativen Gedanken keinen Glauben zu schenken – wenn wir also auch hier die innere Zustimmung zur Form dieses Moments finden können („Ja, das denke ich gerade.“) –, entsteht mehr und mehr ein Raum der Bewusstheit in uns.

Da uns dieser Zustand echter innerer Freiheit meistens nicht bekannt ist, empfehle ich, den Lefkoe-Prozess (nähere Informationen hierzu in diesem Blog-Artikel) auszuprobieren. Hier haben Sie die Möglichkeit, die Weite des Bewusstseins- zustands der Hingabe einmal direkt zu erleben. Außerdem können Sie hautnah spüren, dass Offenheit und Hingabe nichts mit Passivität zu tun haben.

Einverstandensein – mit Haut und Haaren.

Vielleicht klingt für Sie trotz all der Ausführungen der Begriff „Hingabe“ immer noch zu negativ. Gesellschaftliche Prägungen halten sich eben recht hartnäckig… Deshalb hier noch ein alternativer Vorschlag: Benutzen Sie das Wort „Einverstandensein“. Damit ist aber nicht nur ein intellektuelles Akzeptieren, sondern ein Annehmen mit „Haut und Haaren“ gemeint. Dieses vollständige Annehmen mit Leib und Seele ist für mich im Begriff „Hingabe“ enthalten – und erklärt wahrscheinlich einen großen Teil des Widerstands (!) gegen ihn.

Zusammenfassend lässt sich die dargestellte Haltung so beschreiben:

„Lebe damit, verändere die Situation oder verlasse sie. Aber was immer du tust, erkenne zunächst mit deinem ganzen Wesen die Realität dieses Moments an. Und mache diesen Bewusstseinszustand der Hingabe zur Grundlage deiner Entscheidungen und Handlungen.“

Was bedeutet für Sie Hingabe? Und in welchen Momenten fällt Ihnen die annehmende Haltung schwer?

Das Foto von Eckhart Tolle stammt aus einem Vortrag auf der DVD „Touching the Eternal“.

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2 Kommentare
  1. Liebe Evelyn,
    vielen Dank für deine warmen Worte! Und Danke, dass du den Blog weiter empfiehlst.

  2. ich erlebe die entfaltung dieser gedanken als sehr achtsam und liebevoll. so empfinde ich eine große stimmigkeit zwischen den inhalten, die transportiert werden und der form…

    wunderschön und sehr dankenswert.

    ich mache sehr gern auf diesen blog aufmerksam und „poste“ auch den hinweis in „facebook“.

    danke, ingo

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