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Warum Achtsamkeit ein ganz außergewöhnlicher Zustand ist

von Ingo Zacharias am 4. Januar 2011

Achtsamkeit ist zu einem populäreren Begriff geworden. Neben seiner ursprünglichen Verwendung im Buddhismus gilt er inzwischen als zentraler Faktor einer positiven Veränderung in verschiedenen Psychotherapien, für Menschen mit chronischen Schmerzen, im Business-Coaching sowie für ein glückliches Leben im Allgemeinen. Und das zu Recht.

Zugleich ist meine Erfahrung, dass wirkliche Achtsamkeit alles andere als leicht ist. Ganz im Gegenteil: sie ist ein sehr außergewöhnlicher Zustand. Um zu verstehen, was mit Achtsamkeit gemeint ist und warum sie so selten ist, möchte ich zunächst beschreiben, was Achtsamkeit alles nicht ist.

Die 7 Arten des Kontaktes mit der Welt.

In jedem Augenblick unseres normalen Wachbewusstseins gehen wir über unsere Sinnesorgane mit der Außenwelt in Kontakt. Nur direkt über unser Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und  Tasten können wir überhaupt in Verbindung mit der Welt treten. Erst in der Weiterverarbeitung der Reize kommt unsere persönliche Geschichte in Form von Prägungen, Vorlieben und Denkweisen ins Spiel.

Dabei treten diese 7 Arten des Kontaktes mit der Welt besonders häufig auf:

  • Ähnlichkeitsprinzip: Wenn ich morgens einen klaren, blauen Himmel sehe, die Luft kalt ist oder ein Geruch von Holzofen aufkommt, bin ich sofort wieder in Nepal im Himalaya. Dort war ich vor vielen Jahren und dieses Szenario hat sich mir „eingebrannt“. Wir alle kennen solche „Ähnlichkeitserinnerungen“, oft über Gerüche. Das ist ganz normal, und es diente ursprünglich dazu – wie bei Tieren heute noch –, uns vor Gefahren zu schützen. Indem wir nach Ähnlichkeiten zu vorherigen Gefahrensituationen suchten, waren wir in der Lage rechtzeitig zu handeln, also bevor eine tatsächliche Gefahr ausbrach. Zum Ähnlichkeitsprinzip zählt aber auch, dass wir alte, meist negative Kindheitssituationen auf diesen Moment aufgrund einer wahrgenommenen Ähnlichkeit projizieren und uns gemäß der damals erfolgreichen Strategie verhalten. Das Problem dabei: diese Strategien sind heute oft nicht mehr hilfreich und stehen unserer Selbstentfaltung sowie echten zwischenmenschlichen Beziehungen im Weg.
  • Begriffliche Bestimmung: Immer wieder beobachte ich, wie Menschen, wenn sie oben auf einem Berg mit toller Aussicht ankommen, nur damit beschäftigt sind, zu fragen: „Wie heißt der Berg dort? Ist das der Berg xy?“. Oder wir sehen einen Baum und sagen spontan: „Das ist eine Buche.“
  • Bewertung, Einordnung: Wir ordnen unsere Wahrnehmung ständig in Kategorien wie „schön – hässlich“, „groß – klein“, „gut – schlecht“, „gefällt mir – gefällt mir nicht“ etc. ein.
  • Vergleichen: Oft finden wir spontan Vergleich wie „Die Blume ist schöner als…“, „Der Strand war letztes Jahr um diese Zeit noch viel leerer.“
  • Analysieren, Nachsinnen: Hier kommt unser Wissenschaftsgeist ins Spiel. Wir sehen etwas und fragen uns: „Woher kommt das?“, „Wie kann das so sein?“
  • Projektion in die Zukunft: „Wenn das so weitergeht…“, „Die Blume ist wohl bald verblüht.“, „So könnte das Wetter jetzt den ganzen Urlaub bleiben.“
  • In Gedanken verloren über Vergangenheit und Zukunft: Während bei allen bisherigen Beispielen die Reaktion noch aus der Verbindung zum Objekt, das jetzt da ist, entstand, besteht hier erst gar kein Kontakt zur Gegenwart. So gehen wir etwa durch den Wald, sind aber in Gedanken bei dem gestrigen Konflikt mit dem Partner, bei der Präsentation morgen im Büro oder der Planung des nächsten Urlaubs. Der Wald ist dann für uns so gut wie nicht existent.

Sind Ihnen diese Arten des Kontaktes mit der Welt vertraut? Dann können Sie schon einmal genauer an sich wahrnehmen, wie oft Sie nicht achtsam sind. Entweder wir haben nur einen kurzen direkten Kontakt zum Objekt unserer Wahrnehmung und gehen dann in eine persönliche Beziehung zum Objekt aufgrund unserer Geschichte und Vorlieben (Punkte 1-6).  Oder wir sind erst gar nicht in irgendeiner Verbindung, sondern rein gedanklich mit der Vergangenheit oder Zukunft beschäftigt (Punkt 7).

Mit dem Leben unmittelbar in Kontakt kommen.

Auch wenn es sich hierbei nicht um Achtsamkeit handelt, will ich damit nicht sagen, dass all diese Arten des Kontaktes nicht ihren Wert haben. So hat das Analysieren seinen Wert, wenn ich etwas erforschen will oder das Bewerten, wenn ich eine Entscheidung treffen will. Auch das Denken an sich ist nichts Schlechtes. Die Frage ist nur, ob wir uns ständig im diskursiven Denken und assoziativen Wahrnehmen verlieren, oder ob wir auch die innere Kraft haben zu sagen: „Ah, dieser Gedanke wieder. Jetzt verfolge ich diesen Gedanken aber nicht weiter, denn jetzt gehe ich nur spazieren.“

Wenn wir nur diese Formen des Kontaktes kennen, entgeht uns die Lebendigkeit des Lebens. Wir sind dann nie in einem unmittelbaren Kontakt mit dem Objekt, sondern betrachten es immer nur durch ein Konzept. Und wir kommen auch nie wirklich zu innerer Ruhe, denn unser Denken in Form von Beurteilen, Vergleichen etc. kostet uns viel Energie.

Bei den meisten von uns werden diese Kontaktformen ganz automatisch auftauchen, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Das ist auch noch kein Problem. Der entscheidende Punkt ist für mich dabei, sich nicht darin zu verlieren – was in sich schon innere Achtsamkeit erfordert –, sondern immer wieder innerlich still zu werden und neu hinzuschauen, hinzuhören, hinzufühlen etc.

Eine kleine Achtsamkeitsübung.

Wenn Sie direkt einmal überprüfen wollen, wie Sie auf äußere Reize reagieren, gehen Sie doch nach ganz nach unten auf dieser Seite. Dort finden Sie eine Diashow mit mehreren Naturbildern. Schauen Sie ganz in Ruhe auf die Bilder und achten Sie dabei darauf

  • welche der beschriebenen Arten des Kontaktes bei Ihnen auftreten
  • und sich nicht darin zu verlieren, sondern wieder zu versuchen, frisch mit den „Augen des Nicht-Wissens“ hinzuschauen

Eine Definition von Achtsamkeit.

Alles auszuschließen, was Achtsamkeit nicht ist, kann uns für den Raum öffnen, indem wir einfach nur da sind: wach, offen, unvoreingenommen, mit Leib und Seele. Zugleich gefällt mir die Beschreibung von Achtsamkeit, wie Sie Jon Kabat-Zinn – passenderweise in dem Buch „Zur Besinnung kommen“ – gibt:

Man kann sich Achtsamkeit als nichturteilendes Gewahrsein von Moment zu Moment vorstellen, […] das heißt, im gegenwärtigen Augenblick aufmerksam sein und so wenig reaktiv, so wenig urteilend und so offenherzig wie möglich.

Wie leicht oder schwer fällt es Ihnen, achtsam zu sein?

© Foto oben: jarts / photocase.com

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6 Kommentare
  1. 2 0 1 1: Auf dem diesjährigen gemeinsamen Kongress von SMMR (Society of Meditation…- http://www.smmr.de) und Yoga-Vidya in Bad Meinberg wird am Freitag, den 11.11. um 15.55 Uhr (s. http://www.yoga-vidya.de/events/yoga-kongress/programm/freitag.html) ein modernes Verfahren zur Entwicklung von Achtsamkeit vorgestellt, das von mir konzipierte

    Achtsamkeits-Entwicklungs-Training AET.

    (Zum grundlegenden Konzept s. http://www.mbsr-deutschland.de/achtsamkeithttp://www.openmindcafe.ch/profiles/blog/list?user=3itl18s53pexl oder http://www.openmindjournal.com/category/spirit/stille-meditation/ )

  2. Ein wunderbar klarer Artikel über Achtsamkeit. Vor allem die sieben Kontaktarten haben mir gut gefallen. Vielen Dank dafür!

  3. Mir ist der Begriff Bewusstheit bisweilen lieber als der Begriff Achtsamkeit, da er diese allgemeine geistige Wachheit besser zum Ausdruck bringt. Aber Achtsamkeit ist natürlich momentan der populärste Begriff im spirituellen und therapeutischen Kontext. Deshalb verwende ich ihn meistens auch.

    Für mich ist „diese Weitstellung bewusst und kontrolliert einnehmen zu können“ primär ein Ergebnis des Lassen-Könnens. Des Lassens von Vorstellungen, Meinungen und Vorlieben. Und wenn einem dies vollständig gelingt, „fällt“ man meiner Erfahrung nach ganz ohne ein weiteres eigenes Tun in diesen Raum. Auch wenn dies natürlich nicht so ohne weiteres gelingt, ist für mich eine gute Möglichkeit, diese Weite einmal zu erleben, der „Wer bin ich wirklich?“-Prozess innerhalb der Lefkoe-Methode.

    Danke für Ihre ausführlichen Ergänzungen.

  4. „Open focus“ ist ein guter Ausdruck. Nur würde ich ihn gezielt auf die Aufmerksamkeitseinstellung beziehen, auf die alles ankommt: die panoramaartige maximale Weitstellung des Aufmerksamkeitsfokus! Sie macht den entscheidenden Unterschied zu jeder Form oder „Enge“ der Aufmerksamkeitseinstellung aus, die wir v.a. mit Konzentration meinen und die der Bewusstseinsforscher Charles Tart wegen ihrer generellen Beschränktheit generall als (Alltags-)Trance bezeichnet.

    Der allgemeinere Begriff „Bewusstheit“ bringt für mich mehr zu Ausdruck. Meinem Sprachempfinden nach „schwingt“ dabei die Bedeutung von Wachheit immer mit. Dieser Aspekt wird ja mit dem Titel „Buddha“ zum Ausdruck gebracht. Allerdings wird dieser Ehrentitel mit der Bedeutung „der Erwachte“ m.W. meist mit Wendung „der vollkommen Erwachte“ wiedergegeben oder in ihrem Sinn verstanden.

    Es ist sicher nicht falsch, dabei auch an „vollständig“ zu denken, „total“, womit ich dann bei dem Ausdruck „Panoramabewusstheit“ von Chögyam Trungpa ‚lande‘.

    Die Schwierigkeit ist, diese Weitstellung bewusst und kontrolliert einnehmen zu können, ja überhaupt einmal bewusst zu erleben. Man kann sie auch zufällig erleben, wie ich am Schluss meines Connection-Artikels zum Unterschied zwischen normaler Aufmerksamkeit und i.S.v. ’sati‘ aufgefasster Achtsamkeit hier kurz erwähne…

  5. Lieber Herr Kittel,

    ja, „Panorambewusstheit“ (auch „open focus“ genannt) ist ein sehr guter Begriff. Er bringt für mich gut die völlige innere Offenheit für das, was in diesem Augenblick da ist, zum Ausdruck. Außerdem ist in dieser Form der Bewusstheit ein Blick auf die ganze momentane Situation möglich und ein inneres Sehen, ob und wenn ja welches Handeln von mir jetzt ansteht – jenseits meiner normalen Wünsche und Vorlieben.

    Vielen Dank für Ihren Kommentar.

  6. Das Wesentliche der Aufmerksamkeitshaltung, die in buddhistischen Originaltexten auf Pali „sati“ genannt wird und für deren Bezeichnung in Deutschen neben „Achtsamkeit“ und „Gewahrsein“ noch weitere Ausdrücke wie zB. „Geistesgegenwart“ verwendet werden, bringt Kabat-Zinn zumindest nicht ausreichend zum Ausdruck.

    Die m.E. beste Bezeichnung stammt von dem – in seinen Büchern oft genial treffend formulierenden – Gründer des Naropa-Instituts in den USA Lama Chögyam Trunpa: „Panoramabewusstheit“. (Meine Gründe für diese Angabe habe ich in diesem Buchbeitrag dargelegt. „Panoramabewusstheit“ – fact or fiction? – Bekanntes und Unbekanntes zur Psychologie des Achtgebens. In: Piron, Harald und Renaud van Quekelberghe (Hg.): Meditation und Yoga. Bd.1 Achtsamkeit, Heilung, Selbsterkenntnis. Klotz, Eschborn und Sich-Verlagsgruppe, Magdeburg 2010, S. 187-194 – Ein kurzer Gesamtüberblick ist online u.a. hier zu finden.)

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